Eine 2700 Jahre alte Bibliothek aus Assur wird erforscht:
Die Wiege der Wissenschaft im Zweistromland
(2004)
Schon vor einhundert Jahren bargen Ausgrabungen in Assur die Bibliothek eines Gelehrten namens Kisir-Assur aus dem siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. In mehreren Zimmern des Gelehrten-Hauses verstreut lagen in kleinste Fragmente zerbrochen über eintausend Tontafeln – ein riesiges Puzzle, das Wissenschaftler heute zu lösen versuchen."Wenn große rötliche Ameisen mit Flügeln dabei gesehen werden, wie sie im Haus eines Mannes wie Butterfliegen umherfliegen: Der Herr dieses Hauses wird mit der Waffe getötet werden und seinen Nachlass wird man wegnehmen."
Diese seltsame Prophezeiung wurde vor dreitausend Jahren in eine Tontafel gekerbt. Sie ist Teil eines größeren Fundes, den der deutsche Archäologe Walter Andrae schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bergen konnte. Er durchreiste damals das Zweistromland, das ist das Gebiet des heutigen Iraks. Andrae entdeckte bei seinen Ausgrabungen in Assur die Bibliothek eines Gelehrten namens Kisir-Assur aus dem siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. In mehreren Zimmern des Gelehrten-Hauses verstreut lagen in kleinste Fragmente zerbrochen über eintausend Tontafeln – ein riesiges Puzzle, das die Archäologen heute zu lösen versuchen. Knapp die Hälfte dieser Tontafeln ist bislang noch ungelesen; aus verständlichen Gründen haben sich die Forscher zunächst den besser erhaltenen Tontafeln zugewandt, sie zusammengefügt und die Keilschrift-Texte übersetzt. Unter anderem sind dort zahlreiche geheimnisvoll klingende Vorhersagen festgehalten:
Wenn am 14. Tag des Monats Simanu eine Mondfinsternis stattfindet und ein Meteor niedergeht:Ein Emporkömmling wird den Thron besteigen.
Wenn der Venusstern am hellen Tag sichtbar wird:
Ehefrauen werden nicht bei ihren Männern bleiben, sondern anderen Männern nachlaufen.
Auf den Tontafeln der Bibliothek hatten der Gelehrte Kisir-Assur und seine Mitarbeiter das Wissen ihrer Zeit zusammengetragen, erklärt Professor Stefan Maul von der Universität Heidelberg, der die Gelehrtenbibliothek erforscht. Ein großer Teil der Texte beschäftigt sich mit der Zukunftsdeutung. Die Gelehrten versuchten, Zeichen zu interpretieren, um in die Zukunft zu schauen: Zeichen, die sich auf der Erde ereignen, Zeichen, die sich am Himmel ereignen, also astrologischer Natur sind. Die Gelehrtenbibliothek enthält viele religiöse Texte, Hymnen und Gebete, die in den Tempeln gesprochen wurden; außerdem finden sich zahlreiche Beschreibungen, welche Rituale durchzuführen sind, um Unheil abzuenden. Auch Feste werden beschrieben mit Anweisungen, welche Handlungen im Rahmen großer Feiertage etwa beim Neujahrsfest zu vollziehen sind.
Stefan Mauls Arbeit besteht darin, dass er zugehörige Tafelbruchstücke identifiziert, die zerbrochenen Fragmente wieder zusammenfügt, die Texte entziffert und den ursprünglichen Bibliothekszustand rekonstruiert. Um zueinander passende Tontafel-Bruchstücke zu finden, verwendet der Wissenschaftler ein Computerprogramm. Zu jedem Fundstück wird in einer Datenbank festgehalten, welche sprachlichen Besonderheiten das Fragment besitzt, welche Schlüsselwörter vorkommen, auch äußere Merkmale werden aufgezeichnet. Der Computer sucht dann diesen Merkmalen entsprechend nach dazu passenden Bruchstücken. So können die Forscher auch kleinste Tontafel-Fragmente zuordnen. Übrigens arbeiten die Archäologen nur selten und dann nur zur Kontrolle mit den originalen Bruchstücken aus Ton; für die alltägliche Arbeit ist es handlicher, auf Fotos der Tafeln zurückzugreifen. 40.000 solcher Fotos lagern in den Archiv-Schränken Stefan Mauls.
Die Tontafel-Fragmente wurden vor 100 Jahren geborgen, als der Archäologe Walter Andrae mit den Ausgrabungen in Assur begann. Insgesamt schaffte er damals 40.000 Fundstücke nach Deutschland, darunter die Gelehrtenbibliothek. In Berlin ruhten die Fragmente dann jahrzehntelang ungenutzt in Museums-Archiven. Das Berliner Vorderasiatische Museum hatte zunächst andere Schwerpunkte gesetzt, und nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte es auf ostdeutschem Boden an Geld und Personal. Erst als die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Jahre 1996 das Assurprojekt bewilligte, begannen Wissenschaftler, die Fundstücke systematisch zu erfassen. Dabei zählt die Ausgrabung von Assur zu den bedeutendsten archäologischen Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Es waren nicht so sehr die Kunstgegenstände, sondern vor allem die zahlreichen Keilschrift-Texte, die den Fundort Assur auszeichneten, erläutert Stefan Maul: „Vom Kassenzettel bis hin zu historischen Inschriften, religiöse Texte, Scheidungsurkunden, Testamente, Hymnen, Gebete, Lieder, Mythen, was immer man sich vorstellen kann, ist aufgeschrieben worden; und wofür man sich immer interessiert, wird man in dieser ältesten Hochkultur der Menschheit an den Wurzeln finden; die Keilschriftkultur hat über drei Jahrtausende existiert, ein gewaltiger Zeitraum, in dem man Entwicklungen, auch Staatenbildung etwa beobachten kann.“ Das Potential dieser Schriften für die Geschichtswissenschaft und die Kulturwissenschaft sei noch gar nicht ausreichend erkannt worden, meint der Altertumswissenschaftler.
Mitte des dritten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung bildete Assur den Mittelpunkt eines einflussreichen Stadtstaates; tausend Jahre später dehnte Assur seine Macht ins umliegende Territorium aus und wurde Hauptstadt Assyriens. Assur war auch der Name des Stadt- und Reichsgottes der Assyrer und nach ihm nannte sich auch der Gelehrte Kisir-Assur. Dieser hatte im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Aufgabe, den assyrischen König zu beraten und jedes Übel von ihm fernzuhalten – durch Vorhersagen oder mit „magischen und medizinischen Mitteln“. Darüber hinaus musste er dafür sorgen, dass der König die Gunst der Götter erlangte und bewahrte, indem er die rituellen Vorschriften exakt einhielt. Was den Archäologen Stefan Maul an der Bibliothek des Gelehrten fasziniert, ist die philologische Gewissenhaftigkeit, mit der Kisir-Assur und seine Kollegen vor 2.700 Jahren arbeiteten. So finden sich dort schon Wörterbücher für Übersetzungen, außerdem lexikalische Listen und Verzeichnisse sowie eine Zusammenstellung derjenigen Tontafelserien, die für das Studium eines damaligen Gelehrten verbindlich waren, ein Lehrplan also. Im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris sieht Stefan Maul die Wiege des wissenschaftlichen Denkens. Wissenschaft entsteht seiner Meinung nach also nicht erst bei den antiken griechischen Philosophen: “Was die Arbeit dieser Gelehrten mit der Arbeit heutiger Wissenschaftler verbindet, ist erstens die tiefe Überzeugung, dass die Welt nach bestimmten Regeln, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert.“ Die Weltsicht der damaligen orientalischen Menschen war von der Vorstellung geprägt, dass sich Kräfte des Chaos und Kräfte der Ordnung bekämpfen. Die von den Göttern geschaffene Welt erschien den Menschen im Zweistromland als ein Gefüge wohlgeordneter Ursachenzusammenhänge. Tages- und Jahresabläufe wiederholten sich gleichförmig, die Gestirne bewegten sich in geordneten Bahnen. Wachsen und Vergehen folgten bestimmten Regeln. Wenn die Natur sich einmal nicht mehr an diese Regeln hielt, galt das als Hinweis auf Krankheit, Unglück und Katastrophen. Im Auftrag der Könige beobachteten die Gelehrten diese Unregelmäßigkeiten und versuchten sie zu verstehen: in der Opferschau wurden die inneren Organe eines Opfertiers inspiziert, um daraus zukünftige Ereignisse vorherzusagen:
Wenn die Vorderseite der Gallenblasenspitze locker und teilweise abgelöst ist:eine Deichsel wird brechen, der Kaufmann wird auf einer Geschäftsreise, die er unternimmt, seinen Lederbeutel verlieren, und mit leeren Händen zurückkehren.
Wenn die Opferschau für den Krieg durchgeführt wird:
Die Niederwerfung des eigenen Heeres ist beschlossen.
Dieser „Vorzeichenglaube“ erscheint heute merkwürdig oder gar naiv. Die Gelehrten von Assur gehen jedoch davon aus, dass die Welt beherrscht werden kann, wenn man Kausalitäten aufdeckt. So ist diese Methodik doch den modernen Naturwissenschaften vergleichbar, meint Stefan Maul: “Da wird eine unglaubliche Systematik entfaltet - etwa im Bereich der Medizin: dort versucht man, die Pflanzenwelt zu erfassen und festzuhalten, welche Teile welcher Pflanze in welcher Verabreichungsform eine Heilwirkung hat.“ Viele der in den Vorzeichen-Texten dargestellten Kausalzusammenhänge scheinen heutigen Menschen fremdartig, es gibt aber auch eine große Zahl medizinischer Texte, die viel nüchterner klingen:
Wenn ein Mensch sehr ängstlich und nervös ist;wenn seine Augen ständig herumwandern und er unter Erschöpfung leidet;
wenn seine Körpertemperatur nicht hoch ist, er aber häufig hustet, und während sein Inneres immer mehr drückt, Speichel zu fließen beginnt;
wenn seine Gedärme von der Durchfall-Krankheit schmerzen und er an Durchfall leidet;
wenn außen sein Fleisch kalt ist, während darunter seine Knochen vor Hitze brennen;
wenn er aufgibt zu versuchen, sich schlafen zu legen, und während sich seine Luftröhre verstopft, er nach Atem schnappt,
und er „Feuer-Brennen“ oder „Brennen des Inneren“ an vielen Stellen hat –
dieser Mann ist von dem Setu-Fieber befallen.
Stefan Maul warnt davor, die Erkenntnisse, die die Gelehrtenbibliothek Kisir-Assurs offenbart, leichtfertig als Aberglaube abzutun: “Man darf nicht vergessen, dass wir es mit der altorientalischen Kultur zu tun haben, mit einer Kultur, die ein Kontinuum von mehreren Jahrtausenden entfaltet, einer Kultur von ziemlich humorlosen Kaufleuten, so scheint mir, das ist eine Kultur, die sich nicht einfach so mit dummem Zauber abspeisen lässt. Dahinter stehen Verfahren, die Wirksamkeit entfalten.“
Viele Erkenntnisse auch im Bereich der Mathematik, die den späteren antiken griechischen Philosophen zugeschrieben werden, stammen aus dem Zweistromland, wie zum Beispiel der Satz des Pythagoras, erläutert Stefan Maul. „Wir sehen den Satz des Pythagoras im frühen 2. Jahrtausend angewendet, ohne dass er formuliert ist. Die Mathematik spielt natürlich auch im Zusammenhang mit der Astronomie eine große Rolle.“ Pythagoras soll sich mehrere Jahre im Zweistromland aufgehalten und das dortige Wissen studiert haben, ergänzt Stefan Maul. Seiner Auffassung nach entwickelte sich im Zweistromland ein wissenschaftliches Denken, weil dort erstmalig große Städte entstanden, in denen mehrere tausend Menschen zusammenlebten. Lagerbestände mussten verwaltet, Löhne berechnet, Lebensmittelvorräte bewirtschaftet werden. Wenn dies nicht gelang, drohten Hungersnöte oder soziale Aufstände. Als Hilfsmittel bei der Vorratsverwaltung nutzten die Menschen zunächst Zählsteine, das waren kieselgroße in eine bestimmte Form gehauene Steine, die jeweils eine Anzahl von Gütern symbolisierten. Der ökonomische Zwang habe dazu geführt, dass die Schrift entwickelt wurde, erklärt der Altertumswissenschaftler: „Wir sehen im 4. vorchristlichen Jahrtausend, dass diese Entwicklung binnen kürzester Zeit, im Laufe von ein bis zwei Generationen vonstatten geht. Der Druck muss enorm groß gewesen sein.“
Was die Menschen in der damaligen Zeit aufzuzeichnen begannen, war das Wissen, das mündlich bereits jahrhunderte oder jahrtausende lang weitergegeben worden war, vermutet Stefan Maul: „Das sind sehr alte Kenntnisse, so dass man davon ausgehen kann, dass ein Teil dieses Wissens zumindest bis in die frühen Phasen der Jungsteinzeit zurückgeht.“
Die Gelehrtenbibliothek Kisir-Assurs zeigt erste Formen wissenschaftlicher Methoden, die über das bloße Weitergeben von Wissen hinausgehen: Zum Beispiel werden Naturerscheinungen gezielt beobachtet und systematisch aufgezeichnet, Kausal-Zusammenhänge werden in der Form „Wenn-Dann“ aufgestellt. Für Stefan Maul ist die Bibliothek des Gelehrten Kisir-Assur und seiner Kollegen nicht nur für die Menschen der Vergangenheit wertvoll gewesen. Maul ist davon überzeugt, dass in den Texten viele Erkenntnisse stecken, die selbst heute für uns von Nutzen sein können.