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Klimawandel drosselt Wasserkraft in den Alpen: 

Weniger Wasser – weniger Strom

(2008)

Nicht nur die Länder des Südens, sondern auch die Alpenregion ist von der Verknappung des Wassers betroffen.

 

Graubünden in der Ostschweiz: Hoch in den blauen Himmel ragen die Gipfel der Berge, voller Schnee, der hell in der Sonne leuchtet. Wasser stürzt über Felsen zu Tal, springt aufschäumend über Steine unermüdlich bergab. Hier im Engadin liegt der Schweizerische Nationalpark, der den Eindruck einer urtümlichen Alpenlandschaft vermittelt. Ein paar Kilometer weiter jedoch wird dieser Eindruck enttäuscht. Aus dem Bergbach wird ein See, denn eine Staumauer versperrt dem Wasser den Weg. Dicht an der Staumauer steht ein mehrstöckiges Gebäude: das Wasserkraftwerk von Ova Spin.

Das Kraftwerksgebäude schmiegt sich direkt an die bogenförmige 130 Meter lange Mauer des Stausees an. Der Stausee scheint gar nicht viel Wasser zu fassen: das Tal von Ova Spin wirkt schmal, die Bergwände ragen steil auf. Das Wasser für die Stromerzeugung kommt folgerichtig auch nicht aus diesem See, der als Ausgleichsbecken dient, sondern aus dem höher in den Bergen gelegenen Stausee Livigno. Dessen Staumauerkrone ist beachtliche 540 Meter lang, dahinter erstreckt sich eine breite Wasserfläche, die sich weit über zehn Kilometer in das dahinter liegende Alpental ausdehnt. Der Nutzinhalt des Livigno-Stausees ist 26-mal größer als der des Ausgleichsbeckens in Ova Spin. Aus dem Stausee Livigno fließt das Wasser durch einen in den Fels getriebenen und siebzig Kilometer langen Druckstollen herunter nach Ova Spin, wo es die Turbinen antreibt und dann ins Ausgleichsbecken geleitet wird. Von hier aus setzt es seinen Weg fort und treibt dann im Kraftwerk Pradella weiter bergab die Turbinen an, um dann zuletzt noch weiter unten in Martina ein drittes Wasserkraftwerk zu versorgen. So erzeugt dasselbe Wasser dreimal Strom.

1,3 Milliarden Kilowattstunden werden hier im Jahr produziert, das ist ungefähr zweieinhalb bis drei Prozent des Schweizer Jahresbedarfs. Die Wasserkraft deckt insgesamt etwa 60 Prozent des Strombedarfs in der Schweiz. Die Alpen sind reich an Niederschlägen, somit ist die Wasserkraft hier ein wichtiger Rohstoff.

In Deutschland beträgt der Anteil der Wasserkraft an der Stromversorgung nur vier Prozent, in der Schweiz sind es stolze 60 Prozent, ähnlich auch in Österreich. Die Alpen bieten beste Voraussetzungen für die Wasserkraft. Das sieht man auch daran, dass viele bedeutende Flüsse in den Alpen entspringen.

Zahlreiche Stauseen und Wasserkraftwerke liefern überall Strom: Vielerorts will man diese Energieform noch weiter ausbauen. Der österreichische Wirtschaftsminister Martin Bartenstein stellte bei einer Pressekonferenz im Mai 2008 seinen Masterplan Wasserkraft vor. In seiner Pressemitteilung sagt er: „Wer ja zum Klimaschutz sagt, muss auch ja zu Wasserkraft sagen. Denn nach dem Ausbau der Energieeffizienz ist Wasserkraft das Mittel der Wahl, wenn es um Klimaschutz geht. Wasserkraft ist nachhaltig, CO2-neutral und bringt keine Kosten für die Steuerzahler. Österreich ist zu einem Nettoimporteur geworden, was vielfach Import von Atomstrom bedeutet. Wir werden intensiv daran arbeiten, energie-autark zu sein.“

Auch Frankreich setzt auf Wasserkraft. Der französische Umweltminister Jean-Louis Borloo kündigte kürzlich den Ausbau der Wasserkraft an. In einer Presserklärung des Ministers heißt es dazu weiter: „Der Staat unterstützt die Investitionen für die Erhöhung der Produktionskapazitäten durch Turbinen der neuen Generationen. Diese Maßnahmen werden es erlauben, die aus Staudämmen gewonnene elektrische Leistung um 30% zu steigern.“

Weil Energie teurer wird und um Kohlendioxid einzusparen, erscheint Wasserkraft immer attraktiver. Die Alpenländer befinden sich da in einer glücklichen Lage: Die ergiebigen Niederschläge sowie die ausgleichende Wirkung der Schneeschmelze und der Gletscherschmelze sorgten bisher für ein gleichmäßig reichhaltiges Wasserangebot. – Bisher!

Denn Klimaforscher warnen vor Veränderungen. Neue Berechnungen lassen befürchten, dass schon in zwanzig Jahren im Alpenraum bis zu 10 Prozent weniger Strom produziert werden kann, weil die Niederschläge zurückgehen.

Thomas Stocker, Professor für Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern, warnt davor, dass sich die Wasserverfügbarkeit ändert: „Wir haben Abschätzungen, die zeigen, dass im Sommer weniger Wasser kommt, auch in den Bergen, und dass im Winter dafür entsprechend mehr kommt. Aber dieses Wasser wird aufgrund der massiv erhöhten Temperaturen eben als Wasser niederkommen und nicht als Schnee und somit auch sofort abgeführt werden. Gerade diese Verzögerung, von der wir gerade heute sehr stark profitieren, wird reduziert werden.“

Thomas Stocker war maßgeblich am dritten und vierten Klimabericht der UNO beteiligt. Dieser Klimabericht konnte 2007 zum ersten mal zeigen, wie sich die Wasserverfügbarkeit global verändert.

Auswirkungen des Klimawandels zeigen sich beispielsweise in Chamonix in den französischen Alpen. Dort hat sich der Gletscher „Mer de Glace“ schon so weit zurückgezogen, dass ein Wasserkraftwerk gefährdet ist, das vom Gletscherabfluss gespeist wird. Seit 1850 ist der Gletscher in der Länge um 150 Meter zurückgeschmolzen und hat knapp die Hälfte seiner Dicke eingebüßt. Dreißig Meter an Länge und rund fünf Meter an Höhe verliert der Gletscher derzeit jährlich. Fachleute befürchten, dass der Zufluss zum Wasserkraftwerk spätestens 2011 versiegt.

Auch Österreich ist mit Problemen der Wasserversorgung konfrontiert. Studien zufolge spenden Gebirge, in denen keine Gletscher liegen, immer weniger Wasser. Forscher stellten in einer Langzeituntersuchung in Kärnten fest, dass in einem Trinkwasserschutzgebiet die Wasserversorgung bereits um ein Viertel zurückgegangen ist. Anders verhält es sich in Gebirgen mit Gletschern. Weil die Gletscher abschmelzen, nimmt der Abfluss hier teilweise sogar noch zu; angesichts des Gletscherschwundes ist jedoch ein Ende abzusehen.

Iwan Rickenbacher, Honorarprofessor für politische Wissenschaften an der Universität Bern, sieht ähnliche Probleme auch auf die Schweiz zukommen: „Die Schweiz, die sich immer als das Wasserschloss Europas verstand, marschiert geradewegs in eine Stromlücke, wenn nicht Maßnahmen getroffen werden. Der Schwund der Gletscher ist nicht der Auslöser, es ist auch der höhere Konsum in unserem hochtechnisierten Land. Und die Auswirkungen sind die, dass man sich fragt, ob man nicht die bestehenden Wasserreserven, die Staudämme und die Stauseen in Zukunft besser nutzen muss.“

Nach den Berechnungen der Experten könnte die Stromproduktion in zwanzig Jahren wegen Wassermangels bis zu einem Zehntel abnehmen. Vielleicht kann dann eine bessere Kraftwerks-Technik es schaffen, den heutigen Stand aufrechtzuerhalten. Aber dass mehr Strom als heute durch Wasserkraft in den Alpen erzeugt wird, gilt als unwahrscheinlich.

 


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