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Kommunarden heute:

Vom Skandal zum Alltag 

(2004)

Kommunen waren in den 60er Jahren für die bürgerliche Öffentlichkeit ein Skandal: „freie Liebe“, „antiautoritäre Bewegung“, „Revolution“, „Konsumverweigerung“ – das waren Vokabeln, die diese Lebensform markierten. Die Kommunen sind heute in Vergessenheit geraten, aber es gibt sie noch. Seit 1990 verzeichnen sie sogar einen Zulauf, und in Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit erscheinen sie vielen als attraktiv. Nicht etwa Auseinandersetzungen ums Geld oder um den Konsens, sind die schwierigsten und schmerzlichsten Probleme in der Kommune, wie die meisten Außenstehenden vermuten, es sind persönliche Konflikte wie Eifersucht, Angst vor Liebesentzug und Ablehnung, Macht- und Besitzdenken in Zweierbeziehungen und in der Gesamtgruppe.

In Niederkaufungen, einem nordhessischen Dorf, nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt, steht ein leuchtend gelbes Gebäude, an der Wand ein aufgemalter großer Regenbogen. Weitere Häuser schließen sich an das Gebäude an, sie alle gehören zur alternativen Kommune Niederkaufungen. Kinder spielen auf dem Hof. Auf einer Bank am Rand sitzt ein Mann in dunkelrotem Hemd, lilafarbener Hose und unterhält sich mit einer Frau in Birkenstock-Sandalen. Im Gebäude links vom Regenbogenhaus findet sich ein Bioladen: vor der Tür spült ein Mann über einem Waschbecken dunkle Erde von einem Bund Möhren ab. Das Klischeebild des alternativen Lebens ist hier Wirklichkeit.

Vierundsiebzig Menschen leben und arbeiten in dieser alternativen Gemeinschaft; der Bioladen sichert nur einen kleinen Teil der wirtschaftlichen Existenz der Kommune, denn diese hat noch mehr Betriebe, erklärt Renate, eine Kommunardin der ersten Stunde. Sie ist Anfang fünfzig und von Beruf Krankenpflegerin. Für Einkünfte sorgen eine Baufirma, eine Schlosserei, eine Schreinerei, eine Näh- und Lederwerkstatt, ein Tagungshaus, ein Party-Service, und eine Kindertagesstätte. Außerdem sorgen Gemüseanbau, Landwirtschaft mit Milchviehhaltung für Selbstversorgung und zusätzliche Einnahmen.

Sämtliche Erlöse, die die einzelnen Kommune-Betriebe erwirtschaften, fließen in eine gemeinsame Kasse. Nicht alle Kommunarden arbeiten in den kommuneeigenen Betrieben. Auch die, die ihren Job außerhalb ausüben, überweisen ihren Lohn aufs gemeinsame Konto. Wer in der Kommune lebt, braucht fast kein Geld: Miete brauchen die Bewohner nicht zu zahlen, denn die Gebäude gehören der Kommune, das Essen kocht die kommuneeigene Großküche, die Kleidung kommt oft aus der Secondhand-Kleiderkammer. Wer draußen etwas Neues kaufen muss, besorgt sich Bargeld im Verwaltungsbüro. Wer mehr als 150 Euro braucht, meldet das vorher an, dann haben die anderen Kommunarden die Möglichkeit, gegen die geplante Anschaffung ein Veto einzulegen. Gemeinsam zu wirtschaften, das ist einer der Grundsätze des Kommune-Lebens in Niederkaufungen. Wer in die Kommune aufgenommen werden will, muss erst eine Probezeit absolvieren und dann seine gesamten Ersparnisse an die Kommune übertragen. Neben der gemeinsamen Kasse lautet ein weiterer Grundsatz, nachhaltig zu wirtschaften. Das geschieht durch Regenwassernutzung, ein Blockheizkraftwerk und eine Solaranlage. Und wer verreisen will, nimmt sich eine der übertragbaren Monatskarten für den öffentlichen Verkehr oder benutzt eins der sieben Autos.

Regelmäßig versammeln sich die Mitglieder verschiedener Kommunen zum Erfahrungsaustausch. In Deutschland gibt es mindestens 144 Kommunen. Gerade in den letzten Jahren gab es zahlreiche Neugründungen. Ganz aus dem alten Spießer-Leben auszusteigen und eine Kommune zu gründen: diese Idee entwickelte sich während der sechziger Jahren in der Studentenbewegung, als die Kommune Eins und die Kommune Zwei für Schlagzeilen sorgten. Die Kommunarden der Kommune Eins formulierten damals ihre Ziele so: „Auflösung aller Privatverhältnisse, das heißt private, wirtschaftliche, Liebesverhältnisse und Aussichten und Berufs- und Erfolgsaussichten. Revolutionierung des Alltags, was bedeutet, dass wir die Isolation der verschiedenen Menschen in der Gesellschaft auflösen wollen durch die Kommune, durch Zusammenleben."

Die damaligen Kommunen existierten nur kurz. Die Kommune Niederkaufungen hat länger durchgehalten. Sie existiert seit fast siebzehn Jahren. Im Gegensatz zu den damaligen Kommunen haben die Kommunardinnen und Kommunarden von heute nicht mehr vor, „das gesamte Gesellschaftssystem zu revolutionieren“, wie es in den 70er Jahren noch hieß. Sie wollen zeigen, dass eine andere Lebens- und Arbeitswelt hier und heute zumindest in Ansätzen verwirklicht werden kann.

Das Projekt bezeichnet sich als links aber undogmatisch: gleichberechtigt miteinander zu leben, im Konsens zu entscheiden, gemeinsam Verantwortung zu tragen und in Wohngruppen zu leben. Gemeinsam Verantwortung bedeutet auch, dass jede Arbeit gleich bewertet wird: egal ob Arbeit im Haushalt, Kindererziehung oder Arbeit in einem Kommunebetrieb. Wenn ein Handwerker zum Beispiel mehr Zeit für seine Kinder braucht, reduziert er seine Arbeitszeit im Kommunebetrieb - und hat trotzdem den gleichen Anspruch auf das gemeinsame Geld wie sein kinderloser Kollege, der mehr Stunden im Betrieb verbringt. Außerdem verstehen sich die kommuneeigenen Betriebe als Kollektive: es gibt keine Chefs. Auch die Entscheidungen, die die Kommune betreffen, werden im Konsens getroffen, damit sich keine unzufriedenen Gruppen bilden. Jede Woche versammeln sich alle Kommunarden im Plenum; einzelne Fragen werden in Kleingruppen vorbereitet.

Das Kommunikationssystem der Kommunarden bilden zahlreiche Aushänge, Listen, Zettelboxen und Infomappen - auf den Außenstehenden macht das einen verwirrenden Eindruck. Aber die Strukturen haben sich bewährt und garantieren, dass alle Entscheidungen transparent sind, versichert Kommunardin Renate.

Ein Rundgang durch die Kommunegebäue führt auch durchs Tagungshaus, die Bibliothek, das Möbellager und schließlich zur Kleiderkammer, in der zahlreiche Säckchen mit Lavendelblüten einen intensiven Geruch verbreiten – als Schutz gegen Motten. Wer sich für die Kommune entscheidet, verzichtet auch auf die Verlockungen des Konsums. Abgelegte Kleider kommen in die Secondhand-Kleiderkammer. Wer etwas zum Anziehen braucht, bedient sich einfach. Auf besonders schicke Kleidung legt hier sowieso keiner großen Wert.

Abends sitzen die Kommunarden im großen Speisesaal. An den Tischen wird lebhaft diskutiert, Kinder laufen durch die Reihen. Nach dem Essen ziehen sich viele in ihre Wohngruppen zurück. In diesen Wohngemeinschaften sind Paare oder Familien nicht auf sich allein gestellt. Die Kinder werden von allen betreut. Für die Eltern ist das praktisch: wer ausgehen will, muss keinen Babysitter engagieren.

Als die ersten Kommune-Mitglieder 1986 die Gebäude in Niederkaufungen bezogen, blickten die ansässigen Dorfbewohner noch etwas skeptisch auf die neuen Nachbarn und dachten an ständig wechselnde Geschlechtspartner und Beziehungs-Experimente. Ein schiefes Bild, denn laut dem Eurotopia Verzeichnis europäischer Gemeinschaften und Ökodörfer sind nur sechs Prozent der alternativen Gemeinschaften Anhänger der „Freien Liebe“.

So praktiziert auch die Kommune Niederkaufungen keine freie Liebe. Das haben zwar einige Kommunemitglieder früher einmal ausprobiert, berichtet Renate, nach diesen Experimenten haben die Kommunarden die Idee der Freie Liebe jedoch aufgegeben. Allerdings lehnen sie die Kleinfamilie ab. In dieser herrschten meist hierarchische Strukturen vor, kritisiert Renate. Sie selbst ist mit 17 Jahren von zu Hause abgehauen und wollte auch künftig nicht mehr in einer Kleinfamilie leben. Sie versuchte es erst mit Freundinnen und Freunden, aber ihr Traum wurde erst in der Kommune Niederkaufungen wahr. Natürlich ist das Leben auch hier nicht immer einfach. Auch hier gibt es Eifersucht, Angst vor Liebesentzug und Ablehnung, Macht- und Besitzdenken. Diese persönlichen Konflikte sind die schwierigsten, langwierigsten und schmerzvollsten – nicht etwa Auseinandersetzungen ums Geld oder Entscheidungsfindung im Konsens, wie die meisten Außenstehenden vermuten. Besonders schmerzhaft hat Renate die Trennung von ihrem Partner in Erinnerung, der auch in der Kommune lebt. „Weil ich dieser Situation entgehen wollte, täglich dem Mann zu begegnen hier, hab ich ne Auszeit genommen von vier Monaten, die ich dann in Kassel in ner WG verbracht hab.“ Als der Trennungsschmerz nicht mehr so groß war, kam sie dann in die Kommune zurück.

Im Hof der Kommune Niederkaufungen hantiert ein fünfjähriger Junge mit einem Akkuschrauber an einem Brett, ein Mann hilft ihm. Andere Kinder stehen daneben und arbeiten mit. Aus den Brettern soll ein Baumhaus werden. Zwanzig Kinder aller Altersstufen leben heute in der Kommune Niederkaufungen. Renate erinnert sich, wie die Kinder in ihrer Wohngruppe während der vergangenen Jahre groß geworden sind. Dass diese neben ihren Eltern auch viele andere Kommunarden hatten, die sich um sie gekümmern konnten. „Ich glaube dass denen das gut getan hat, noch andere zu haben als ihre Eltern, zu denen sie gehen konnten.“ Dass sich auch Erwachsene im Notfall auf die Kommune verlassen können, zeigt das Beispiel von Rolf. Er ist Anfang vierzig, von Beruf Schreiner und kam mit 28 Jahren in die Kommune. Mit 35 Jahren erlitt er einen Schlaganfall und benötigte plötzlich die Hilfe anderer Menschen. „Wenn das alles fremde Leute gewesen wären, ich weiß nicht, was ich gemacht hätte. Aber hier in der Kommune war es so: ich konnte nach Hause und da waren fünfzig Leute, die sich um mich gekümmert haben. Und das fand ich total gut.“

Aufgaben, die andernorts der Staat wahrnimmt, leisten in den Kommunen die Mitglieder in eigener Regie: Kinder werden betreut, Kranke und Alte gepflegt, niemand muss finanzielle Not leiden, weil alles geteilt wird. Vom Staat nehmen Kommunarden nur ungern Hilfe an, so lehnen sie es beispielsweise in der Kommune Niederkaufungen grundsätzlich ab, Sozialhilfe zu beantragen, sagt Renate: „Also das einzige, das wir bisher in der Richtung in Anspruch nehmen ist bisher für den Rolf die Grundsicherung." Das Prinzip heißt: jeder übernimmt Verantwortung - auch für die anderen, meint Renate: „Ich möchte hier den Rest meines Lebens verbringen.“ Und Rolf pflichtet ihr bei: „Ich denke schon, dass wir auf einem guten Weg sind.“


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