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Eine Auswahl vergangener Features:

Elternkurse fördern eine sichere emotionale Bindung:

Mit Feinfühligkeitstraining zum Urvertrauen

(2013)

„Man muss das Baby schreien lassen, das ist gut für die Lungen.“ „Nicht immer gleich zum Säugling hinlaufen, wenn es weint, damit man es nicht zu sehr verwöhnt.“ Solche Ratschläge müssen sich junge Eltern häufig anhören, und oft lassen sie sich davon verunsichern. Heute wissen Psychologen und Bindungsforscher: Ein kleines Baby kann man nicht verwöhnen! Im Gegenteil ist es wichtig, dass der Säugling in den ersten Monaten das Urvertrauen aufbauen kann, das notwendig für ein gesundes und zufriedenes Leben ist.

Ein Baby krempelt das Leben seiner Eltern um. Nichts ist mehr wie vorher. Nach der Geburt ihres Sohnes bemerkte Tanja Ochmann zwiespältige Gefühle: „So sehr man sich freut, so sehr hat man auch wirklich Ängste, Sorgen und ist erst mal ziemlich überfordert mit der Situation, wenn es dann konkret wird.“ Tanja Ochmann und Martin Uhlemann, beide Anfang 30, sitzen auf der Couch im Mütter-Kinder-Café in Solingen. Neben ihnen liegt der neun Wochen alte Joshua. Eine Schwangerschaft war gar nicht geplant, erinnern sich die jungen Eltern. Als das Kind dann unterwegs war, wurde ihr Leben ziemlich turbulent. Neben Freude machten sich auch Sorgen bei ihnen breit, erklärt Martin Uhlemann: „Man wird unglaublich bombardiert mit allen möglichen Infomaterialien, Büchern. Man geht in die Bücherei, man wird erschlagen, man weiß ja gar nicht, wo man anfangen soll, wo man aufhören soll.“ Welche Informationen sind richtig ? Was machen wir, wenn das Baby nicht essen will? Was, wenn es dauernd schreit? Ab wann soll es alleine schlafen? Die zukünftigen Eltern waren immer wieder unsicher.

Außerdem fragten sich Tanja Ochmann und Martin Uhlemann, ob sie dem Kind überhaupt die nötige Geborgenheit bieten konnten. Waren sie feinfühlig genug? Würden sie spüren, was ihr Baby braucht? Tanja Ochmann erinnert sich nur ungern an ihre eigene Kindheit, die von Vernachlässigung und Gewalterfahrungen geprägte war, so dass sie sehr früh – noch als Kind - selbständig werden musste. Schon mit drei, vier Jahren musste sie ganz ohne Begleitung zum Kindergarten laufen. Und als sie in die Schule kam, stellte sie sich den Wecker, um rechtzeitig in der Klasse zu sein. „Ich habe auch heute keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern, und das tut mir ganz gut. So hat man die Chance gehabt, wieder Fuß zu fassen, zu sich zu kommen und ein eigenes Leben sich aufzubauen.“ Ihrem kleinen Sohn wollte sie schlechte Erfahrungen unbedingt ersparen.

Sie dachte zunächst, sie hätte mit ihren eigenen üblen Erfahrungen von Alleinsein und Gewalt abgeschlossen, aber in der Schwangerschaft kamen die Erinnerungen wieder hoch. Und dann geriet auch noch ihr Freund durch Krankheit in eine Krise. „Das hat mir Angst gemacht“, erinnert sich Martin Uhlemann. „Wie sieht es mit der Zukunft aus? Bringe ich genug Geld rein? Wie lange bleibe ich überhaupt noch krank? Das war ein enorm hoher Druck. Und deshalb sind wir auf die Idee gekommen, zu Pro Familia zu gehen, die uns zu dem SAFE-Kurs vermittelt haben.“

„SAFE“ steht für „Sichere Ausbildung für Eltern“, ein Kursprogramm, das schon in der Mitte der Schwangerschaft beginnt und die Eltern bis zum Ende des ersten Lebensjahres ihres Kindes begleitet. Es will ihnen helfen, eine sichere Beziehung zu ihrem Baby aufzubauen. Entwickelt hat das Konzept, das Eltern für die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder sensibler machen soll, der Münchener Bindungsforscher und Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Karl Heinz Brisch. Eltern sollen die „Babysprache" besser verstehen und die Signale ihres Kindes richtig deuten lernen.

Wie wichtig eine frühe Bindung für ein Baby ist, hat man in den sechziger Jahren erkannt. Das Bedürfnis eines Kindes nach Geborgenheit, Trost und Sicherheit ist genauso grundlegend wie Hunger oder Durst. Sobald es auf der Welt ist, sucht ein Baby die Bindung an eine Bezugsperson. Emotionale Sicherheit bildet ein stabiles Fundament. Damit kann sich ein Kind wirklich körperlich, emotional, sozial gesund entwickeln, sagt Karl Heinz Brisch: „Das Gefühl von Urvertrauen und emotionaler Bindung zum Beispiel an die Eltern entwickelt sich bei einem Baby im Laufe des ersten Lebensjahres. Ein Baby, das sechs, sieben Monate alt ist, fängt an zu fremdeln. Wenn ein Kind gar ein Jahr alt ist, dann ist dieses emotionale Band schon so weit entwickelt, dass es, sobald die Mutter den Raum verlassen will und aufsteht, nachläuft, weint, ruft und protestiert: ich will mit.“

Normalerweise machen Eltern intuitiv alles richtig, und es entwickelt sich eine gute Bindung zwischen Eltern und Baby. Sicher gebundene Kinder entwickeln sich besser als andere. Sie sind einfühlsamer, können sich besser in andere hineinversetzen, sie haben mehr Ausdauer, sind kreativer und selbstbewusster.

Kinder, die keine sichere Bindung zu den Eltern aufbauen konnten, leiden dagegen auch im späteren Leben oft unter Trennungsängsten, sie klammern sich an andere Menschen oder reagieren aggressiv. Sie sind weniger widerstandsfähig und verhalten sich unter Belastungen eher auffällig.

Eine unsichere Bindung entsteht allerdings erst dann, wenn wirklich viel schiefläuft, beruhigt Karl Heinz Brisch junge Eltern: Das System sei relativ robust. Bedenklich ist jedoch, dass in Deutschland nur etwas mehr als die Hälfte aller Kinder als sicher gebunden gelten.

Fatal ist es zum Beispiel, wenn eine Mutter nach der Geburt depressiv ist und nicht wirklich auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen kann. Zufriedene Eltern haben dagegen oft auch glückliche Kinder. Wenn es Eltern schlecht geht, nehmen sie die Signale ihres Babys nur mangelhaft wahr. Negative Gefühle übertragen sich von den Eltern auf das Kind. Es geht dabei nicht immer um Gewalt oder dergleichen schlimme Erlebnisse der Eltern, meint Karl Heinz Brisch: „Eine Totgeburt, eine Fehlgeburt, ein gestorbenes Kind ein, zwei Jahre vorher: Wenn das nicht gut verarbeitet ist, und die Mutter jetzt wieder schwanger wird, dann kann sie unmittelbar Angst und Sorge bekommen, ob diesmal alles gut geht.“

Diese Angst um das Baby kann sich nach der Geburt fortsetzen, und die Beziehung zum Kind stören. Und wenn eine Mutter in ihrer eigenen Kindheit selber keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatte, wird es ihr schwer fallen, eine sichere Bindung zu ihren eigenen Kindern aufzubauen. Solch unglückliche Bedingungen können von Generation zu Generation weitergegeben werden. Oft rufen schlechte Bindungserfahrungen in schwierigen Situationen unbeherrschtes Verhalten hervor, wie Karl Heinz Brisch schon oft erleben musste. Da kommen Eltern mit ihren verletzten Kindern ins von Haunersche Kinderspital, und berichten, sie hätten gerade zugeschlagen oder das Baby geschüttelt. Verzweifelt bitten sie um Hilfe. „Und wenn wir dann mit den Eltern sprechen, stellen wir fest, dass sie selbst schwierige Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit schlecht verarbeitet haben und Hilfestellung brauchen.“ Ein weinendes Baby kann die Eltern unter Stress setzen, weil deren alte eigene Erfahrungen plötzlich so intensive Gefühle auslösen, dass sie gar nicht mehr recht wissen, was sie tun.

In Einrichtungen wie dem Mütter-Kinder-Café in Solingen erhalten Eltern Hilfe. Die Leiterin des SAFE-Elternkurses Martina Thomas befragt Mütter und Väter zu Beginn immer nach ihren eigenen positiven und negativen Bindungserfahrungen. Entdeckt sie unverarbeitete Traumata, hilft sie auch bei der Suche nach einem Therapeuten: „Manche haben Schwierigkeiten mit Nähe, weil sie diese früher mit ihren eigenen Eltern nicht erlebt haben, da war Körperkontakt eben nicht die Regel. Solche Eltern muss man auch ermutigen, ihr Kind viel auf den Arm zu nehmen und es zu streicheln.“ Zu den Kursen selbst treffen sich bis zu acht Eltern – auch Alleinerziehende – zunächst jeden Monat an vier Sonntagen vor der Geburt. Nach der Entbindung finden die Treffen an sechs weiteren Sonntagen in größeren zeitlichen Abständen statt. Sie lernen, sich zu entspannen, tauschen sich untereinander aus, sie trainieren ihr Einfühlungsvermögen mit Hilfe von Videos, und sie können sich im Notfall immer an die Kursleiterin wenden.

Karl Heinz Brisch hat festgestellt, dass die SAFE-Kurse von Müttern und Vätern aller sozialen Schichten besucht werden. Das Problem vieler junger Eltern heute ist, dass sie kaum Erfahrung mit kleinen Kindern haben. Früher war das anders. Viele hatten da schon ihre jüngeren Geschwister betreut. Manche Eltern kommen heute voller Panik in die Wochenendambulanz des Münchener von Haunerschen Kinderspitals, weil ihr Kind die Flasche nicht ausgetrunken hat. Jungen Eltern fehlen einfach Erfahrungen mit Kleinkindern, bedauert Karl Heinz Brisch. Auch bei seinen Medizinstudenten beobachtet er das. In anderen Ländern ist das nicht so. „Das Alltagsknowhow, was eine Zwölfjährige in La Paz hat, die schon fünf Kinder groß gezogen hat, die ist bei uns nicht mehr Alltag, so dass wir die Eltern zunächst an kleinen Video-Beispielen trainieren, Signale eines Babys wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren, angemessen und prompt darauf zu reagieren. Das können sie dann lernen, und da werden sie dann auch immer besser.“

Feinfühligkeitstraining nennt das Karl Heinz Brisch: Das sei so, als ob man eine neue Sprache erlerne. In Solingen kümmert sich die Mentorin Martina Thomas um die Elterngruppe, an der auch Tanja Ochmann und Martin Uhlemann mit Joshua teilnehmen. Die Sozialpädagogin arbeitet im Solinger Familienhilfezentrum und hat es immer wieder mit Eltern zu tun, denen es schwerfällt, ihr Kind richtig zu versorgen und ihm liebevoll und sensibel zu begegnen. Martin Uhlemann ist froh, dass er und seine Partnerin den Kurs besuchen. Auch wenn das Baby mal ausdauernd schreit, beunruhigt das die Eltern nicht mehr so stark: Im Kurs haben sie gelernt, erst einmal eine Liste abzuarbeiten, um herauszufinden, was dem Kleinen fehlt: Ist er müde, hungrig, durstig, ist die Windel voll, oder hat er Bauchweh? Mittlerweile ahnen sie aber schon, was ihr kleiner Sohn braucht, berichtet Tanja Ochmann: „Man hört schon am Schreien: sind das jetzt Schmerzen oder ist das so ein Quengel-Schreien, weil die Hose jetzt nass ist.“ Und wenn augenblicklich gar nichts hilft, können Eltern beim Familienhilfezentrum anrufen, um Rat und Unterstützung zu erhalten.

Über Elternkurse informieren Jugend- und Gesundheitsämter, Hebammen sowie Kinder- und Frauenärztinnen. Tanja Ochmann und Martin Uhlemann sind von Pro Familia auf den SAFE-Kurs aufmerksam gemacht worden. Sie bezahlen insgesamt siebzig Euro für den gesamten Kurs, allerdings erhalten sie auch einen Zuschuss, denn die Kosten richten sich nach dem Familieneinkommen und danach, wie viel Sponsoren noch dazugeben. Auf den Internetseiten von SAFE können interessierte Eltern durch Eingabe des Wohnorts einen Kurs in ihrer Nähe ermitteln.


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