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Die gesellschaftliche, moralische und existenzielle Dimension der Finanzkrise

Schuld und Schulden

(2013)

Schulden sind eine Verpflichtung, die den Schuldner an den Gläubiger bindet. Aber Kredite können das Verhältnis der Menschen vergiften, vor allem wenn dem Schuldner die Geldsorgen über den Kopf wachsen. Im Altertum erlösten regelmäßige Schuldenerlasse die verarmten Menschen von der Schuldknechtschaft. Seit alters her haben sich Religionen mit dem Thema der Schulden befasst, einem uralten und brandaktuellen Problem: Die Zahl der überschuldeten Privatpersonen hat in Deutschland trotz der „brummenden“ Wirtschaft zugenommen. Die Schere von Armen und Reichen geht immer weiter auseinander. Ist ein Schuldenerlass, ein Jubeljahr nötig, um das Auseinandertreiben der Gesellschaft zu stoppen?

An seinem einundzwanzigsten Geburtstag erhielt Ernest Thompson Seton, Schriftsteller schottischer Abstammung und Naturforscher, von seinem Vater eine Liste. Auf dieser waren fein säuberlich alle Ausgaben verzeichnet, die während der Erziehung des jungen Ernest angefallen waren. Sogar die Arztkosten für die Entbindung waren aufgeführt. Das alles, so bedeutete der Vater seinem Sohn damit, war dieser ihm schuldig. Ernest soll die Rechnung auch tatsächlich bezahlt haben.

 Persönliche Bindung vs. Geschäftsbeziehung

Was für ein schrecklicher Vater! Was für ein Scheusal! Genau das scheint Ernest Thompson Seton empfunden zu haben. Denn nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, sprach er nie wieder ein Wort mit seinem Vater. Es ist nur konsequent, denn der Vater verhält sich zu seinem Sohn wie in einer Geschäftsbeziehung. Er stellt sich seinem Sohn gegenüber als Gläubiger dar, und wenn der Sohn dann seine Schulden bezahlt hat, dann ist die Geschäftsbeziehung zu Ende. Beide können frei ihrer Wege gehen, das Band zwischen ihnen ist zerschnitten. Vater und Sohn haben nichts mehr miteinander zu schaffen.

Schulden können als eine moralische Instanz gesehen werden, die eine gesellschaftliche Bindung schafft. Jeder schuldet dem anderen im alltäglichen Leben irgendwie etwas, unter Freunden, unter Nachbarn, unter Kollegen; aber man rechnet nicht ab. Diese Bindung, dass man sich etwas schuldet, kann also durchaus etwas Positives haben und ein Band der Solidarität sein. Aber sie hat auch etwas Negatives, sie kann eine Fessel der Knechtschaft sein.

Schulden: Fessel der Knechtschaft

Die negative Seite hat Stephanos Kyriakos erlebt. Er hatte ein Transportunternehmen mit sieben Angestellten. Die Geschäfte liefen bestens, bis im Jahr 2001 sich ein amerikanisches Unternehmen seinen Hauptauftraggeber einverleibte. Stephanos Kyriakos sollte jetzt seine Preise um 30 Prozent senken. Es wurde ihm unmöglich, seine Mitarbeiter fair zu bezahlen, geschweige denn, dass für ihn selbst noch etwas übrigblieb. Er musste seine Firma dichtmachen. Er war insolvent. „Man hat keine Freunde mehr“, klagt der Unternehmer. „Man fragt nach Geld. Der Steuerberater lässt einen hängen, weil die Rechnung noch nicht bezahlt ist. Mein Auftraggeber hat dann die letzten zwei Rechnungen nicht bezahlt, das waren über 40.000 Mark. Und so steht man direkt auf der Straße, kann die Miete nicht bezahlen, hat eine Räumungsklage und steht bei Null.“

Stephanos Kyriakos wandte sich zusammen mit seiner Frau an eine Schuldnerberatung. Die bemüht sich, den Betroffenen einen Überblick zu verschaffen und einen Weg herauszufinden aus dem Dickicht unbezahlter Rechnungen, Mahnungen und Zahlungsbescheide. Der Gang zur Schuldnerberatung fällt vielen Menschen sehr schwer, weiß Jutta Büttner von der Verbraucherzentrale Köln: Den Leuten falle es schwer, diesen Schritt zu machen: „Wenn sie hier sind, spielen sich Katastrophen ab, viel Weinen oder große Nervosität oder Schwierigkeiten, überhaupt über das Thema 'Schulden' zu reden.“ Die Ratsuchenden schämen sich wegen ihrer Schulden. Stephanos Kyriakos erinnert sich nicht gern an die damalige Zeit: „Man hat nichts, keine Wertsachen mehr, man darf kein Auto mehr haben, und die Bank hat mir die EC-Karte weggenommen.“ Mit 10.000 Euro Schulden kündigte die Bank ihm das Konto. Und auch als er dann einen Job fand, war es für ihn schwierig, ein neues Konto zu eröffnen.“ Viele Arbeitgeber reagieren empfindlich, wenn der zukünftige Mitarbeiter ihnen erklärt, sein Lohn könne eventuell gepfändet werden. Auch eine neue preiswertere Mietwohnung war schwer zu finden. „Wenn Sie einmal in der Schufa drin sind, und haben 13 Gläubiger, 13 Leute, denen Sie Geld schulden, über 120.000 Euro, bekommen Sie erstens die Gerichtsvollzieher auf den Hals. Die Gerichtsvollzieher waren die ersten, die da waren. Dann verlangte mein Anwalt sein Geld, um die Insolvenz in die Wege zu leiten. Das Schlimmste war wirklich, dass man abgestempelt wird von der Außenwelt.“

Stephanos Kyriakos steht mit seinen Erfahrungen nicht alleine da. Fast jeder zehnte erwachsene Bundesbürger hat Schulden, die er nicht mehr zurückzahlen kann. Das belegt eine Studie der Wirtschaftsauskunftei Creditreform, der sogenannte „Schuldneratlas“. Und das trotz der brummender Konjunktur, gibt der Wirtschaftsforscher und Verfasser der Studie Michael Bretz zu bedenken. Über sechs Millionen Deutsche sind von Überschuldung betroffen. Der höchste Anstieg an Überschuldungen erfolgte sogar in der „Mittelschicht“: „Die Zahl der überschuldeten Bürger in Deutschland hat - wenn auch nur leicht - zugenommen gegenüber dem letzten Jahr, das ist wohl das wichtigste Ergebnis.“

5000 Jahre Schulden

Das Problem ist uralt. Der Anthropologe David Graeber hat eine Weltgeschichte der Schulden geschrieben: „Schulden – die ersten 5000 Jahre“. Er ist einer der Vordenker der Occupy-Bewegung und unterwirft in seinem Buch die Begriffe Kredit, Zinsen und Geld einer kritischen Prüfung. Er betont, dass schon die Menschen der Frühzeit ihre wirtschaftlichen Beziehungen nicht etwa durch Tauschhandel oder durch Münzgeld organisierten, sondern durch gegenseitige Kredite. Kreditsysteme gingen der Einführung von Münzgeld um Jahrtausende voraus. Archäologen haben im Zweistromland massenhaft Tontafeln ausgegraben, auf denen in Keilschrift Kredite festgehalten sind, Kredite, welche die Bauern und Händler bei den Verwaltern der Tempel und den zugehörigen Lagerhäusern hatten.

„Wir wissen nicht genau, wann und wo verzinste Kredite ihren Ursprung haben, denn sie sind offenbar älter als alle schriftlichen Aufzeichnungen. Höchstwahrscheinlich haben Tempelverwalter sie erfunden als Instrument, um den Karawanenhandel zu finanzieren.“

Schulden in den Weltreligionen

Alle großen Weltreligionen beschäftigen sich mit dem Thema: Wir stehen in der Schuld der Götter, denen wir unser Leben verdanken. Wir begleichen die Zinsen mit Opfern. Und die ursprüngliche Schuld bezahlen wir schließlich mit unserem Leben. Wenn die Weltreligionen von Schulden und von Schuld sprechen, dann übernehmen sie die Sprache des Marktes. Die Ursache dafür scheint zu sein, dass sie in Gesellschaften entstanden, in denen Geld, Kredit, Zins, Überschuldung und Schuldknechtschaft von elementarer Bedeutung waren und Ursache schwerwiegender Konflikte. Immer wieder fielen die Armen durch hohe Zinsen in Schuldknechtschaft. Sie verpfändeten ihre Kinder an Gläubiger oder gerieten selbst in die Sklaverei, wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten. Viele Menschen gerieten so ins Elend, was immer wieder Revolten provozierte. Um solche Aufstände und Umstürze zu verhindern, verkündeten die sumerischen und später die babylonischen Könige in regelmäßigen Abständen Generalamnestien, bei denen ausstehende Schulden für null und nichtig erklärt wurden.

Auch die Hebräer kannten den Schuldenerlass: Alle sieben Jahre, im Sabbatjahr, gab es einen kleinen Schuldenerlass und alle 50 Jahre einen großen: da kamen im Jubeljahr Sklaven wieder frei, und Schulden wurden gestrichen.

So heißt es im dritten Buch Mose:

„Wenn ein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, darfst du ihm keine Sklavenarbeit auferlegen; er soll dir wie ein Lohnarbeiter oder ein Halbbürger gelten und bei dir bis zum Jubeljahr arbeiten. Dann soll er von dir frei weggehen, er und seine Kinder, und soll zu seiner Sippe, zum Eigentum seiner Väter zurückkehren. Denn sie sind meine Knechte; ich habe sie aus Ägypten herausgeführt; sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen. Fürchte deinen Gott!“

Wie die Propheten beklagt der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, dass auch in unserer Gesellschaft Vermögen zu ungleich verteilt sind und sich viele Menschen verschulden müssen: „Die Unterdrückung des Armen, die Unterdrückung des Notleidenden, das wird angeprangert von den Propheten, weil auf der einen Seite das riesige Vermögen entsteht durch ungleiche Einkommensentstehung und auch durch unterschiedliche gesellschaftliche Risiken.“ Sie haben dann ihre Schulden zurückzuzahlen – und dazu auch noch die Schuld-Zinsen, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Verteilungsforscher Günther Moewes: „Wenn ein reicher einem Armen Geld leiht, dann ist das ja zuerst ein Akt der Solidarität. Unsolidarisch sind nur die Zinsen. In diesem Schuldenvorgang steckt einmal eine solidarische Komponente, und auf der anderen Seite steckt auch die Gier dahinter und eine egoistische, egozentrische Komponente.“

Genau diese Erfahrungen haben sich über Jahrtausende in den Weltreligionen niedergeschlagen. Deshalb wenden sich Judentum, Christentum und Islam gegen den Zins. Im Alten Testament der Bibel und im Koran finden sich Verbote, Zinsen zu verlangen. Aber diese Verbote wurden oft relativiert oder umgangen.

Die Thora formuliert ein Zinsverbot, und im Talmud, einem der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums, wird weiter darüber diskutiert. Da geht es dann nicht um ein absolutes, sondern um ein relatives Zinsverbot: man soll vor allem dem Armen keine Zinsen abverlangen, niemanden übervorteilen, und es wird unterschieden zwischen Zins und Wucher. Ein Kredit gegen Zinszahlung ist auch dann erlaubt, wenn ein wirtschaftliches Projekt finanziert wird.

Der Koran, beziehungsweise das islamische Recht, die Scharia, verbieten Geldzinsen. Heute wird das Verbot oft nur für die Form von Wucherzinsen ausgelegt. Erträge aus Handel sind erlaubt, und eine Kredit-Vergabe kann auch positiv als Hilfestellung bei unternehmerischer Tätigkeit interpretiert werden.

Im Christentum galt das Zinsverbot über lange Zeit, wurde später jedoch abgeschwächt und schließlich ganz aufgehoben, und man fasste nur noch Wucherzinsen unter das Verbot.

Motor der industriellen Revolution

Im achtzehnten Jahrhundert wurden verzinste Kredite zu einem wichtigen Motor für die industrielle Revolution. Es entstand eine neue Wirtschaftsform, der Kapitalismus. Hier war eine Realwirtschaft mit ihren großen Fabriken nicht denkbar ohne die Finanzwirtschaft mit ihren Banken, die den Unternehmen durch Kredite die nötigen Gelder zur Verfügung stellte. Ohne Schulden und ohne den damit verbundenen Zins würde kapitalistische Wirtschaft nicht funktionieren.

Nicht nur für die Industrie waren Kredite von Bedeutung. Seit den 30er Jahren in den USA und seit den 50er Jahren auch in Deutschland erhalten Privatpersonen Ratenkredite. Konsumgüter können erworben und in monatlichen Raten abbezahlt werden.

Vollmundig die Werbeversprechen: „100 Tage Zahlpause für den neuen 3-D-Fernseher!“ - „Kaufen mit Ratenzahlung! Bei einem Warenwert von 2.099 Euro und 99 Cent, in 48 Monatsraten abzuzahlen, mit einer monatlichen Rate von nur 58 Euro.“ Vorsicht vor solchen verlockenden Angeboten! Der effektive Jahreszins beträgt über 15 Prozent! Das Produkt kostet am Ende statt 2.099 Euro beachtliche 2.785 Euro. Also fast 700 Euro mehr. Solche Ratenkredite oder mit anderem Wort „Konsumentenkredite“ werden von Versandhäusern, Autohäusern und vielen Händlern wärmstens angepriesen. Nach Jutta Büttners Erfahrungen spielen auch die Banken mit: „Man muss natürlich darauf acht geben, dass die Kreditvergabe dazu beiträgt, dass der Konsum funktioniert. Die Banken vergeben die Kredite teilweise hart an der Grenze, wenn von vorn herein klar sein müsste, dass diese Rate auf Dauer gar nicht so gezahlt werden kann.“

Schulden gelten nicht mehr als verwerflich wie in früheren Zeiten. Sie sind eine Möglichkeit, sich im Vertrauen auf die Zukunft die schönen Attribute der Wohlstandsgesellschaft zu verschaffen. Aber das Vertrauen auf die Zukunft wird zerstört, wenn Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung die Pläne zunichtemachen. Da geraten viele in die Schuldenfalle, aus der sie sich nicht wieder befreien können. Die Verschuldung von Personen, die schon seit Jahren überschuldet sind, hat zugenommen. Im Bereich der leichten Überschuldung sind die Zahlen leicht zurückgegangen.

Staatsverschuldung und Krise der Finanzwirtschaft

Und es gibt noch einen Schulden-Posten, den die Bundesbürger zu stemmen haben, ohne sich das immer bewusst zu machen: die Staatsverschuldung. Sie beträgt heute über zwei Billionen Euro. Rechnet man diese Summe auf alle Bürger Deutschlands um, steht jeder mit über 25.000 Euro in der Kreide. Jedes Baby, das in Deutschland geboren wird, kommt schon mit dieser Schuldenlast auf die Welt. „Schuldenkrise“ – dieses Wort geht in den letzten Jahren wie ein Gespenst um im Europa. Mit diesem Begriff seien die Bürger jedoch auf eine falsche Fährte gelockt worden, moniert der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Damit werde nämlich verschleiert, dass es sich eigentlich um eine Krise der Finanzwirtschaft und der Banken handelt, weil diese sich in Spekulation statt in solider Kreditfinanzierung verausgabt haben. Die phantastischsten und undurchschaubarsten Geldanlage-Produkte kamen auf den Markt. Immer fiktionaler, künstlicher sind die Finanzinnovationen auf den globalen Finanzmärkten geworden. Anstatt aber Banken, die sich verspekuliert haben, pleitegehen zu lassen, muss der Steuerzahler dafür geradestehen, empört sich Friedhelm Hengsbach: „Die schreien nach dem Staat als Retter, um das gesamte hybride Gebäude aufrechtzuerhalten, der Staat verschuldet sich und muss natürlich dann diese Schulden abbauen, indem er Leistungen für den Teil der Bevölkerung kürzt.“

Den Bürgern werden da Schulden aufgeladen, die sie gar nicht zu verantworten haben. Die gesamte Gesellschaft gerät in eine Schuldknechtschaft der internationalen Märkte. Da wird kein Unterschied zwischen Arbeitslosen, Rentnern oder Angestellten gemacht – alle sind gleichermaßen schuldig gegenüber den Finanzmärkten.

Die Zins-Verlierer

Selbst der Mittelstand ist Zins-Verlierer. Viele wollen das nicht wahrhaben und wähnen sich auf der Gewinnerseite, aber sie übersehen, dass in vielen Preisen der Waren und Dienstleistungen, die sie erwerben, eine Menge Kreditzinsen stecken.

Ein Beispiel: Ein Erzbergwerk wird mit der Hilfe von Krediten errichtet. Die Kredit-Zinsen verteuern die Erzpreise. Das Erz kommt zum Hüttenwerk, das den Rohstoff zu Stahl verarbeitet. Auch dieses Werk musste Kredite aufnehmen und zahlt Kreditzinsen an die Bank. Diese Zinsen schlägt es auf den Stahlpreis auf. Ebenso verhält es sich beim Röhrenwerk, das die Rohre für eine Gaspipeline produziert, beim Bau und Betrieb der Pipeline bis hin zu den Stadtwerken, die ihre Kunden mit Erdgas versorgen.

Von Stufe zu Stufe dieser Wertschöpfungskette, türmen sich Kosten für Kreditzinsen auf, die am Ende der Verbraucher zahlen muss. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung stecken in manchen Preisen, vor allem in den Energiepreisen, mittlerweile bis zu 70% Zinsanteil.

Neun Zehntel der Bevölkerung zahlen über Preise, Mieten und Steuern mehr Zinsen und Renditen, als sie je über ihre Guthaben wieder einnehmen. Das ist der Grund dafür, dass die Vermögen der meisten privaten Haushalte ständig abnehmen oder zumindest keinen Zuwachs verzeichnen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellte in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vor kurzem fest, dass die deutsche Mittelschicht seit 15 Jahren immer kleiner wird: Über fünf Millionen Menschen haben seit 1997 den Abstieg aus der Mittelklasse erlebt. Es geht heute nicht mehr um den Traum vom Aufstieg, sondern um die Angst vor dem Abstieg. So sind wir letztendlich alle Schuldner – zumindest die meisten von uns.

Die Zins-Gewinner

Und wer sind die Gläubiger? Wer streicht die Zinsen ein? „Diese Zinsen kriegen alle die, die noch heute Geld verleihen können“, sagt Günther Moewes. „Der Staat kann kein Geld verleihen, weil er Schulden hat. Kreditgeber sind die zum einen die privaten Großvermögen und die Sammelvermögen, also an die privatisierten Versicherungen, die Altersversicherungen, die Rentenfonds.“ All diese Gläubiger kassieren die Zinsen und Zinseszinsen. „Sie sind die großen internationalen Player, die Riesenvermögen angesammelt haben, die sozusagen aus Arbeitergroschen bestehen. Und die spekulieren damit. Aber beide, sowohl die Superreichen als auch diese Sammelfonds die liefern dann riesige Summen, Milliarden- und Billiardensummen an die Finanzmärkte, die treiben dann Staaten vor sich her,“ beschreibt Günther Moewes die Situation.

So vermehren sich die großen privaten Geldvermögen; dabei geht die Schere von Arm und Reich immer weiter auseinander. Die untere Hälfte aller Haushalte verfügt über so gut wie gar kein Vermögen. Die oberen 10 Prozent verfügen über die Hälfte aller Vermögen, und darüber besitzt das oberste ein Prozent fast ein Viertel aller Vermögen in Deutschland.

Ein Missverhältnis

Die großen Geldvermögen wachsen und wachsen, automatisch, durch Zins und Zinseszins, ohne dass die Vermögenden etwas dazu tun müssen. Die Vermögen wachsen exponentiell. Eine Kurve, die immer steiler nach oben klettert.

„Lassen Sie doch ihr Geld für sich arbeiten!“ – mit diesem Slogan warb einmal eine Bank. Aber Geld arbeitet nicht. Es sind immer Menschen, die arbeiten und Werte schaffen. Aber die reale Wirtschaft wächst langsamer als die Geldvermögen, sie wächst nur linear. Eine Gerade, die gleichmäßig ansteigt.

Weil der Kuchen nur einmal verteilt werden kann und die Geldvermögen ihren Anteil daran fordern, wird Arbeit entwertet und immer schlechter bezahlt. Eine Entwicklung, die Michael Bretz von Creditreform mit Sorge beobachtet. Auf dem Arbeitsmarkt finden sich heute viele „flexible Arbeitsverhältnisse“ - ein euphemistischer Begriff, denn diese Arbeitsverhältnisse bedeuten geringere Absicherung, geringeres Einkommen, Teilzeitarbeit. „Und das bedeutet vor allem, dass die Rentenansprüche deutlich kleiner werden.“

Geld-Schwemme

Dagegen schaffen die anwachsenden großen Vermögen eine in der Geschichte nie gekannte Liquidität. Riesige Geldmengen suchen freie Anlagemöglichkeiten auf den Kapitalmärkten. Wir leben heute in einer Zeit, in der das Problem nicht zu wenig Geld, sondern zu viel Geld ist.

Und das Karussell der innovativen Finanzprodukte dreht sich immer schneller. Computer beschleunigen das Marktgeschehen an den Börsen. Durch Hochfrequenzhandel laufen Orders in Millisekunden ab, die Anzahl der Deals steigt in schwindelnde Höhen. Was sich heutzutage auf den internationalen Börsen und im außerbörslichen Handel abspielt, wird immer unberechenbarer.

Dieser Markt ist ein sich wild drehender Kreisel, der schlecht enden wird. Das prophezeite Standard-and-Poor‘s-Direktor David Tesher schon im Dezember 2006 in einem vertraulichen Memo mit dem Blick auf bestimmte komplexe Wertpapiere. Ein anderer Mitarbeiter der Rating-Agentur schrieb: „Hoffen wir, dass wir alle reich und pensioniert sind, wenn dieses Kartenhaus zusammenbricht.“

Das Pfeifen im Walde

Fast die Hälfte aller Bundesbürger rechnet laut einer Forsa-Umfrage mit einer Verschärfung der europäischen Staatsschuldenkrise im laufenden Jahr. Aber die deutsche Wirtschaft sieht hoffnungsvoll in die Zukunft, wie Umfragen bei Ökonomen ergeben. Und die Regierung sieht allen Grund zur Zuversicht. Deutschland werde auch 2013 Vorreiter bei Wirtschaft und Arbeitsmarkt sein. In den Ländern, die unsere Hilfe beanspruchen, sei in den vergangenen Jahren viel vorangegangen. In Spanien und Italien passiere viel, und auch in Griechenland gehe es voran.

Das sind Worte, die den Glauben daran bestärken sollen, dass es uns bald wieder besser gehen wird. Sind wir tatsächlich noch Handelnde, wie die hoffnungsvollen Worte suggerieren wollen? Oder sind wir doch nur Objekte in einer deregulierten Welt, in der die Finanzmärkte das Sagen haben?

Der Kapitalismus als Religion

Die Hoffnung darauf, dass die Krise auch ohne wesentliche Eingriffe in die Finanzmärkte und ohne Umverteilung der Vermögen vorübergeht, erinnert an eine These des Philosophen Walter Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, das heißt der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“

Walter Benjamin beschreibt den Kapitalismus als eine Kultreligion, die sich auf die Beschaffung von Geld konzentriert und die den Menschen an den täglichen Schuldendienst bindet. Geld ist in unserem Leben so ungeheuer wichtig geworden. Die finanziellen Schulden prägen unser Leben in einem ähnlichen Ausmaß, wie es früher vielleicht die moralische Schuld, die religiöse Schuld, die Schuld gegenüber Gott gewesen ist. Aber diese neue Religion des Kapitalismus, wie sie Walter Benjamin diskutiert, bietet den Menschen keine Erlösung mehr. Ihnen werden die Schulden nicht erlassen.

Aber Wirtschaft ist kein Glaubenssatz. „Warum ist jeder davon überzeugt, dass es moralisch ist, seine Schulden zurückzuzahlen?“ fragt David Graeber. Schulden sind ein Versprechen. Aber Geld hat die Fähigkeit, Moral in eine Sache unpersönlicher Arithmetik zu verwandeln. Das persönliche Verhältnis von Menschen ist zu einem Geschäftsverhältnis, ist entpersonalisiert worden, stellt auch Günther Moewes fest: „Weil das Geld von diesem solidarischen Gegenüber abstrahiert. Das Geld ist anonym. Das kommt von irgendwoher, sitzt irgendwo im Ausland oder sonst wo. Da ist dieses 'von-Angesicht-zu-Angesicht' ja völlig weg.“

Herr und Knecht

Die Schuldenvereinbarung wird heute nur noch selten zwischen zwei Gleichberechtigten ausgehandelt. Der Gläubiger ist oft der Starke, der Abhängigkeiten schafft und Herrschaft ausübt. Da gibt es für Bankkunden oft ein böses Erwachen. Sie haben bei dem netten Bankangestellten einen Kredit erhalten oder sie haben bei ihm Wertpapiere gekauft und fühlen sich ihm verbunden. Wenn sie erfahren müssen, dass die lukrativen Wertpapiere, die ihnen angepriesen worden sind, sich jetzt als ruinöse Giftpapiere erweisen oder wenn sie merken, dass die Bank gar nicht mehr freundlich ist, wenn sie den Kredit nicht mehr bedienen können, dann fallen sie aus allen Wolken, weiß Jutta Büttner: „Sie sind dann sehr enttäuscht, weil sie durch so eine lange Bindung an ihr Bankinstitut einfach freundlicheres Verhalten erwarten. Aber die Bank ist keine soziale Einrichtung, da geht’s um Geschäft.“

Trotzdem fühlen sich die meisten verschuldeten Menschen innerlich dazu verpflichtet, ihre Schulden zurückzuzahlen. „Über 90 Prozent aller Kredite werden zurückbezahlt,“ berichtet Jutta Büttner. „Es ist häufig so, dass die Leute lieber den Kredit zurückzahlen und dann lieber weniger essen oder ähnliches, haben wir alles hier erlebt aus lauter Angst, dass sie in die Schufa kommen oder mit Inkassounternehmen zu tun haben.“

Kredit heißt Glauben

Wenn der Schuldner eine Verpflichtung eingeht, seinen Kredit zurückzuzahlen, so geht auch der Gläubiger bewusst ein Risiko ein, sein Geld nicht wiederzusehen, falls der Schuldner nicht zahlen kann. Nicht zuletzt für dieses Risiko erhält er ja Zinsen. „Kredit“ hängt mit dem lateinischem „credere“ zusammen, das heißt „glauben“. Es geht ganz profan um den Glauben an die Zahlungsfähigkeit.

Dieser Glaube schwindet. Staaten droht die Zahlungsunfähigkeit. Sparhaushalte der Länder bürden den Bürgern große Schuldenlasten auf. Massenproteste und soziale Unruhen erschüttern Portugal, Spanien und Griechenland.

Die Landwirte in Griechenland fordern niedrigere Treibstoffpreise und drohen die Autobahnen vollständig zu blockieren. Auch die Seeleute streiken weiter, Inseln ohne Flughäfen sind praktisch isoliert. Die Proteste sind Folge der Sparpolitik. Die griechische Wirtschaft schrumpft seit beinahe sechs Jahren.

Schuldenerlass und Umverteilung

In Biblischen Zeiten sollten regelmäßige Schuldenerlasse gewaltsame Unruhen und Umstürze verhindern. Würde den Griechen ein Schuldenerlass helfen? Hätten die Armen dann endlich eine Aussicht auf Gnade und Erlösung? „Wenn die Tragfähigkeit der Schulden nicht mehr gesichert ist, dann gibt es nur einen Schuldenerlass,“ konstatiert Friedhelm Hengsbach. Wie Hengsbach fordert auch Günther Moewes eine Umverteilung des Reichtums. Ein Mittel dazu wäre eine Vermögenssteuer. „Was sich da unter den obersten ein bis fünf Prozent der Reichen an Vermögen gesammelt hat, entspricht dem Vier- bis Fünffachen des gesamten Bundeshaushalts. Wenn Sie das besteuern, kommt richtig was bei rum.“

Nach einer jüngsten Studie des Weltwirtschaftsforums stehen wirtschaftliche Probleme auch 2013 wieder ganz oben auf der Liste der 50 größten Gefahren für die Welt: Als größtes Risiko wird eine stark zunehmende Einkommensungleichheit genannt. An zweiter Stelle steht die öffentliche Verschuldung. Weltweit wächst die Krisengefahr. Schuldenkrisen, ungleiche Einkommensverteilungen, die Häufung von privaten und staatlichen Schulden, all das führte in der Vergangenheit oft zu Kriegen. Die Katastrophe eines Krieges war dann der radikale Schnitt, der einen Neuanfang ermöglichte. Es ist zu hoffen, dass wir diese Art des Schuldenschnitts nicht erleben müssen.


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