Betrachtungen

Randbemerkungen zu verschiedenen Themen
 

 

Blutige Rituale - Menschenopfer
06.10.2006

Nachrichten-Meldung vom 01.04.2006 über ein Menschenopfer in Indien: Ein Vater opfert seinen vierjährigen Sohn der Hindu-Göttin Kali. Der Mann sagte, die Göttin Kali sei ihm erschienen. "Sie befahl mir, entweder mich selber oder meinen Sohn zu opfern", erklärte der Friseur. "Ich habe mich für letzteres entschieden, weil der Rest meiner Familie gelitten hätte, wenn ich gestorben wäre."

Viele Stellen des alten Testaments der Bibel erwähnen Menschenopfer. Diese waren in den altorientalischen Religionen verbreitet. Zum Beispiel wurden Menschen geopfert, wenn Fundamente großer Bauwerke gelegt wurden. Erstgeborene mussten oft dem Gott geopfert werden, berichtet die Bibel. Mit Abraham und der Beinahe-Opferung Isaaks (Gen 22) endet das blutige Ritual, anstelle des Menschen wird nun ein Widder geopfert. Religionsgeschichtlich hat die jüdische Religion das grausame Menschenopfer abgeschafft.

Die Menschen der Vorzeit wurden von zahlreichen Naturkatastrophen heimgesucht, ob Hungersnöte, Überschwemmungen oder Raubtiere, auf deren Speiseplan sie standen. Immer wieder waren die Menschen mit dem gewaltsamen Tod ihrer Mitglieder konfrontiert. Wie sollten oder konnten sie darauf reagieren? Sie waren nicht in der Lage, sich rational mit den Gefahren auseinanderzusetzen und ihnen wissenschaftlich-technisch zu begegnen, wie wir das heute gewohnt sind.

Auch heute reagieren Traumaopfer in einer archaischen Weise auf den Schrecken. Bei einer schweren Traumatisierung entkoppeln sich wichtige Funktionsweisen des Gehirns. Informationen werden dann erst gar nicht an das rationale explizite Gedächtnis weiter geleitet, und das Verhalten wird plötzlich in bestimmten Situationen fast ausschließlich von dem entwicklungsgeschichtlich älteren impliziten Gedächtnis gesteuert. Ähnlich wird es bei den Menschen der Bronze- und Steinzeit gewesen sein. Das explizite Gedächtnis war zu der damaligen Zeit weniger weit entwickelt, die Bereiche des Gehirns arbeiteten nicht gut zusammen. Der amerikanische Psychologe Julian Jaynes geht sogar von einer funktionellen Trennung beider Hemisphären bei Menschen aus, die vor über 4000 Jahren gelebt haben. Die Verarbeitung des Schreckens erfolgte bei Menschen der Vorzeit deshalb über das implizite Gedächtnis.

Warum opferten die Menschen nun einen der ihren? Indem sie selbst das Schreckliche ausübten, nahmen sie dem Schrecken das Schreckliche. Was man selbst tut, schreckt weniger, als wenn es einem unerwartet zustößt. Deshalb inszenierten sie den Tod im Menschenopfer. Ein magisches Denken impliziert, dass man das Schreckliche verhindern könne, wenn man selbst das Schreckliche vorwegnimmt.

Mit Abraham haben Menschenopfer ein Ende. Dieser Wandel vollzieht sich zu einer Zeit, in der die Menschen anfangen, mit Problemen anders – rationaler – umzugehen. Mündliche Überlieferungen werden plötzlich aufgeschrieben, die Schriftreligion entsteht; die Tora bildet die Grundlage des religiösen Judentums. In dieser Tradition stehen Christentum und Islam. Im Christentum findet das Menschenopfer ein letztes Mal im Selbstopfer des Sohnes Gottes statt. Alle Menschen- und Tieropfer für Gott sind danach überflüssig. Die Muslime knüpfen an Abraham an und gedenken mit ihrem alljährlichen Opferfest an dessen Prüfung durch Gott.

Das Menschopfer wird in der Folge durch andere Opfer ersetzt: erst werden Tiere dargebracht, dann leblose Dinge. Heute erinnern noch einige Volksbräuche an die schrecklichen Menschenopfer, zum Beispiel die Puppenverbrennung (Mittsommer, alemannische Fastnacht).