Betrachtungen

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Okkultismus - Sehnsucht nach dem mythisch-magischen Bewusstsein und die Last der Selbsterkenntnis
28.08.2013

Verlagskataloge werben regelmäßig für zahlreiche Buch-Neuerscheinungen aus dem Bereich Okkultismus und Esoterik. Der Markt ist riesig, das Bedürfnis nach Esoterik-Produkten groß. Auch entsprechende TV-Kanäle, Esoterikmessen, Shops für Ritualzubehör, Internetangebote bieten eine Fülle esoterischer Dienstleistungen und Produkte an. Was macht Okkultismus attraktiv? Was suchen Menschen in der Esoterik?

Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies

Individual-entwicklungsgeschichtlich wünschen sich viele Menschen den Bewusstseinszustand der frühen Kindheit zurück, einen Bewusstseinszustand ohne ein reflexives Ich; in menschheitsgeschichtlicher Perspektive ist es eine Sehnsucht nach einem mythisch-magischen Bewusstsein, wie es bis vor 3000 Jahren vorherrschend war.

Achsenzeit - der größte kognitive Schub der Geschichte - die Vertreibung aus dem Paradies

Vor 3000 Jahren findet ein radikaler Umbruch in der Bewusstseinsorganisation statt, den der Philosoph Karl Jaspers als "Achsenzeit" (von 800 bis 200 v.Chr.) bezeichnet hat. In dieser Zeit ereignet sich in allen Hochkulturen eine Revolution im Denken. In Indien erscheint Buddha, in Persien Zarathustra, in China Konfuzius und Laotse und in Palästina wirken die biblischen Propheten. Homer schreibt die Ilias und die Odyssee und die griechischen Philosophen schaffen die Grundlagen für ein wissenschaftliches Denken. Rationales Denken und Beweisführung treten an die Stelle der Mythen, die Schrift an die Stelle der mündlichen Überlieferung. Die alten Götter verlassen die Bildfläche. In der Folge fragen die Weltreligionen bis heute: Warum haben die Götter uns verlassen, warum wurden wir aus dem Paradies vertrieben, warum redet Gott nicht mehr zu uns? Das Bedürfnis nach Rück-Bindung, nach Religion entsteht.

Die in der Achsenzeit entstehenden Hochreligionen heben sich vom archaischen naiv-mythischen Glauben ab: In Israel sehen die Propheten den jüdischen Gott nicht mehr als einen Stammesgott, sondern als den einen universellen und nicht benennbaren Gott. In China entwickelt Laotse des Begriff des "Dao" als ein ewiges Wirk- oder Schöpfungsprinzip. In Indien sprechen die Upanischaden vom "Brahman", dem Urgrund von allem. Buddha Gautama spricht vom "Nirwana", dem Erlöschen, der absoluten Leere.

Es vollzieht sich eine entscheidende Änderung im Denken: Menschen schauen erstmals nach Innen, reflektieren ihr Handeln und sind in der Lage, selbst Entscheidungen zu treffen und vorausschauend zu planen. Es entsteht erstmals Selbst-Bewusstsein, Selbsterkenntnis. Es handelt sich um den größten kognitiven Schub in der Geschichte, der ungeheure Energien freigesetzt hat. Die Menschen können die Erde nach ihrem Willen gestalten, sie aber auch in eine Wüste verwandeln.
In den folgenden Jahrhunderten ringen zwei Bewusstseinsformen miteinander: das alte mythischmagische Bewusstsein und das selbstreflexive, denkende, aufklärerische Bewusstsein. Die entstehenden Institutionen (wie Kirche, Staat) streben nach Machterhalt und drängen autonome Individuen mit subjektiv-reflexivem Bewusstsein an den Rand. Aufklärerische Geister werden als Verräter (Ketzer, Staatsfeinde) geächtet.

Regression des Individuums:
Anders als die Menschen der Vorzeit, treffen die zum subjektiven Bewusstsein fähigen Menschen Entscheidungen selber auf Grund von Erfahrungen und Lernprozessen, ohne absolute Gewissheit und Sicherheit zu haben. Diese Unsicherheit konnten und können Menschen aber nur schwer ertragen und sehnen sich nach dem verlorenen Paradies und suchen bis in unsere säkularisierte Gesellschaft hinein nach neuen Hoffnungsträgern profaner Art. Ihre Harmoniewünsche verführen dazu, Konflikten, Krisen und Entscheidungen auszuweichen, sich Autoritäten zu unterwerfen oder in eine Sucht zu flüchten.

Medien-Overload - Ablenkung vom Selbst: 
Diese Regression wird durch eine entwickelte technische Lebenswelt und Unterhaltungsindustrie befördert. Der ganze Medien-Overload lässt die heutigen Menschen in den Industrieländern kaum mehr zur Ruhe kommen. Ablenkung von sich selbst entlastet oberflächlich von der Verantwortung für sich selbst. Der Buddhismus strebt nach dem Nirwana, der wunschlosen Glückseligkeit. In den Industriestaaten herrscht das genaue Gegenteil: die chronische Bedürfnisinkontinenz.

Archaik in der Moderne: 
Die Moderne birgt Spuren der Archaik und bewahrt das mythisch-magische Bewusstsein. Die Menschen haben zwar die Fähigkeit, nach Innen zu blicken, doch viele trauen dem nicht oder trauen sich nicht, bleiben ausschließlich weltzugewandt und versuchen, nur das Außen zu meistern. Oder sie greifen beim Versuch, nach Innen zu schauen, auf Angebote des Okkultismus-Marktes mit dem paradoxen Ergebnis, dass die Innenschau äußerlich bleibt.

Okkultismus als Produkt der Massenmedien

Die Erfindung des Buchdrucks ist die Voraussetzung dafür, dass sich in der Neuzeit aufklärerisches Wissen verbreiten kann. Bald zirkulieren im 18. Jahrhundert aber auch massenhaft Flugschiften und Bücher mit Wundergeschichten, Sensationsmeldungen, Gerüchten, die eine breite Leserschaft finden. Publizistik entwickelt sich in zwei sich widersprechende Richtungen. Sie strebt einerseits nach vernünftigen Erklärungen, ist andererseits aber auch Transportmittel für Okkultes, Verdunkelndes , Widersinniges. Heute ergänzt oder ersetzt das Internet die Druckerpresse und ist Plattform für Nachrichten über Hexen, Engel und UFOs und für Angebote zu Magie, Ritualzubehör, Geld- und Liebeszauber.

Selbst Wikipedia sei ein okkultes Medium kritisiert die Ethnologin Sabine Doering-Manteuffel in ihrem Buch "Das Okkulte", weil deren Links oft auf Seiten mit esoterischer Propaganda und zu fragwürdigen Anbietern führten.

Das Bedürfnis nach Selbstreflexion kann fehlgeleitet zum Okkultismus führen, wenn Menschen zu Pseudoerklärungen im Angebot des Okkult-Marktes greifen. Autoritätshörigkeit statt sich des eigenen Verstandes zu bedienen - schon Immanuel Kant kommentierte eine solche Einstellung: "Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen."
Sabine Doering-Manteuffel bilanziert die heutige Situation: "Der Schatten des Okkulten lässt sich aus dem technisch-publizistischen System nicht mehr löschen. Das Okkulte ist Teil der Informationsgesellschaft und der Unterhaltungsindustrie, partizipiert an globalen Wertschöpfungsverfahren und am digitalen Kapitalismus."

Jenseits von Eden

Somit führt die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies durch die digitalen Medien auf das alte mythisch-magische Bewusstsein zurück, das eine fraglose, fragunfähige Geisteshaltung befördert, gespeist von Entlastungsprozessen aller Art: "Sicherheitsgewinn durch die Herrschaft des Selbstverständlichen, die Herrschaft von undifferenzierten Stimmen im Innenraum, denen unreflektiert Gehorsam gezollt wird. Der magisch-mythische Mensch ist naiv, kennt nur eine Realität und keine Möglichkeiten. Diese erscheinen dem Bewusstsein erst durch reflexive Brechung." (Konrad Pfaff)

So sucht sich seit 3000 Jahren ein reflexives Bewusstsein zu behaupten. Aber Selbsterkenntnis kann auch eine Last sein. Denn wer erst einmal vom Baum der Erkenntnis genossen hat, hat das Paradies verloren, jedoch die Sehnsucht danach bleibt.